Im ersten Teil des Reiseberichtes ging es ausnahmslos durch das alte Bundesland Bayern. Mit der heutigen, elften Etappe überquerten wir die Grenze nach Thüringen. Von nun an sollte es noch einmal so lange durch die ehemalige DDR gehen, aufgeteilt in vier neue Bundesländer. Im fränkischen Kulturbereich, der historisch gesehen auch die südlichen Teile des heutigen Thüringen umfasst, war noch kein Unterschied erkennbar, was Landschaft und historische Gebäude angeht. Dennoch ist die jahrzehntelange Trennung für den Reisenden deutlich sichtbar. Am Wegesrand liegen architektonischen Zeitzeugen der Epoche, wie die allgegenwärtigen, großen Barackenkomplexe der ehemaligen LPG's, die es nahezu in jedem Dorf gibt, und Wohn- und Büroplattenbauten, die oft mit wenig Rücksicht aufs bauliche Umfeld in die größeren Orte implantiert wurden. Aber auch viele Details im öffentlichen Raum, z.B. die Zäune vieler Privatgrundstücke, Gehwege oder Straßenlaternen haben die Jahrzehnte überdauert und tragen zum besonderen Ambiente bei. Ob das gefällt, liegt im Auge des Betrachters; immerhin hat man dafür die im Westen zu besichtigenden Bausünden der 70er-Jahre in den Innenstädten vermieden...
Ganz praktische Auswirkungen hat es aber für den Radreisenden, dass Gastronomie und Einzelhandel in den Städten deutlich ausgedünnter daherkommen. Im besten Fall gibt es eine oder zwei Eisdielen, die auch gut angenommen werden. Aber das war es dann oft auch schon. Restaurants sind hingegen rar gesät. Die Auswahl besteht oft nur zwischen einem Griechen und einem gutbürgerlichen Lokal mit heimischer Küche, wenn überhaupt. Der kleinteilige Einzelhandel in den Innenstädten tut sich ebenfalls schwer, selbst in prominentester Lage finden sich hier 1-Euro-Shops und andere Ramschläden. Die meisten Altstädte sind deshalb auch nicht so belebt wie man es ihnen wünschen würde und abends wie leergefegt. Mit wenigen Ausnahmen wie Eisenach und Leipzig blieb dies bis Berlin so...
Heute ging es zunächst auf und ab durch das mal weitere, mal engere, aber immer ansprechende Werratal. Wir folgten den guten Ausschilderungen des Werraradwegs auf kleinen Landstraßen ohne nennenswerten Verkehr zunächst bis zum Kloster Veßra. Von einer Besichtigung der sicherlich sehenswerte Anlage sahen wir ab, da sie unserer Ansicht nach zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte und wir nicht mit den Rädern hinein durften (allerdings sahen wir andere Radler, die ihre Räder hinter dem Einlass sicher abstellen konnten). Das war schon das zweite Mal, dass ich hier vorbei kam ohne hinein zu gehen, zuletzt war ich hier auf meiner Reise von Berlin nach Straßburg, gerade herunter vom Rennsteig im Thüringer Wald. Mir wurde erst an dem Kloster bewusst, dass ich wohl die nächsten Kilometer schon einmal gefahren sein musste. Damals ging es durchs Werratal eine kurzes Stück, bis wir ins Grabfeld (heißt wirklich so) zur fränkischen Saale abbogen. Allerdings hatten wir damals wohl ein bißchen geschummelt, indem wir auf der Straße blieben. Diesmal jedoch ging es den Schildern folgend nach dem Kloster ordentlich bergauf, eine schöne Schiebestrecke, die wohl einen Blick auf die örtliche geologische Sensation, den eingefallenen Berg, einen Felsabsturz, ermöglichen sollte. Dafür mussten wir ordentlich Schweiß lassen, denn es war nicht nur steil, sondern auch heiß! Oben angelangt erwartete uns aber zur Belohnung ein hölzener Pausenpavillon, den wir für eine kleine Auszeit im Schatten nutzen. Danach wurde das Tal breiter und wir bekamen einen eigenen Radweg, den wir uns allerdings mit Spaziergängern und Inline-Skatern teilen mussten. An einer Reihe Obstbäume machten wir eine längere Pause auf unserer Picknickdecke, genossen die Ruhe und das Panorame und fuhren dann zwischen Thüringer Wald und Rhön an kuppigen Hügeln vorbei in die ehemalige Residenzstadt Meiningen. Auf den letzten Kilometern verlor sich allerdings der Liebreiz der Landschaft ein wenig, spätestens ab dem stark gewerblich geprägten Grimmenthal.
Die am Abend ausgefallene Stadtbesichtigung holten wir am Vormittag nach, wir hatten es ohnehin nicht so weit heute. Es sollte nur nach Bad Salzungen gehen, ein Kurort südlich von Eisenach, den wir als Ausgangspunkt für unsere Thüringer-Wald-Überquerung ausgewählt hatten. Auf dem Weg durchs Werratal passierten wir Orte mit wohlklingend-mystischen Namen wie Wasungen oder Breitungen. Wasungen wollten wir deshalb auch noch intensiver erkunden, aber der Ort war trotz der überwiegend sanierten Fachwerkhäuser so gut wie tot. Keine Läden, keine Menschen... in Breitungen gab es am anderen Ufer immerhin ein Schloss zu sehen. Am interessantesten war jedoch die Kirchenburg in Walldorf, nicht die erste auf dieser Reise, aber die beeindruckendste. Leider war die Einfahrt nach Bad Salzungen etwas anstrengend, der direkte Weg ging nur über die stark befahrene B 62, aber auch die ausgeschilderte Route des Werraradwegs war nicht ohne. Sie ging zwar auf eigenen Radweg neben der Straße, aber es war laut und selbst der notwendige Seitenwechsel war nicht ohne Mühen möglich. Später ging es zwar wieder durch die Werraauen, aber der damit verbundene Umweg war nicht unerheblich. Dafür konnten wir unsere Räder in unserem Hotel schön in der Tiefgarage unterbringen und hatten ein schönes, modernes Zimmer nahe dem beeindruckenden Gradierwerk der Stadt. Diese Gradierwerke, in denen durch die Befeuchtung von Reisigbündeln mit solehaltigem Wasser für atemwegserkrankte Menschen feuchte, salzhaltige Luft produziert wird, gibt es in Mitteldeutschland zwischen Franken und Sachsen-Anhalt öfter einmal. Aber ich habe noch kein so großes und schönes wie hier gesehen, eine Doppelanlage mit einer sehr schönen Gartenanlage in der Mitte. Bei unserem Abendspaziergang in die Altstadt beobachteten wir mehrere Handvoll Menschen am zentralen Marktplatz die einem Redner lauschten, der sich in Regierungsbeschimpfungen gefiel. Der Hintergrund der Kundgebung erschloss sich uns nicht und so gingen wir lieber zum direkt neben der Altstadt gelegenen Burgsee. Als wir zum Markt zurückgingen kehrte auch das Protestpublikum von seinem zwischenzeitlich begonnenen Demonstrationszug durch die Gemeinde zurück und nahm noch ein Abschiedsbier am örtlichen Imbiss. Für uns hingegen war es nicht so einfach, im Kurort noch ein Bier zu bekommen. Die Gastronomie war sehr dünn in der Stadt verteilt, und die wenigen offenen lokale proppevoll. Außen. Innen wollte wetter- und coronabedingt niemand sitzen. Wir auch nicht... Aber am Ende hatten wir Glück und bekamen ein schönes Plätzchen und genossen unser Essen und die laue Abendluft...
Heute war der große Tag, den wir so lange Richtung Westen- vor uns hergeschoben hatten. Es sollte über den Thüringer Wald nach Eisenach gehen. Und wir hatten keine Ahnung, wie es wohl werden würde. Es gab jedenfalls weder hier noch sonst entlang dieses Mittelgebirges akzeptable Querungsmöglichkeiten für Bummelradler. Vor drei Jahren fand ich von Norden kommend einen guten Weg durch das Tal der Ilm hoch nach Frauenwald und von dort in wilder Schußfahrt nach Schleusingen. Aber von Süden kommend gab es solche Optionen, ein Flußtal nach oben zu nutzen, nicht. Also musste es irgendwo direkt den Hang hoch zum Rennsteig gehen. Auf unserem Weg südlich des Thüringer Waldes suchten wir bereits ständig einen geeigneten Einstieg, aber fanden keinen. Nun musste es einfach sein, denn weiter um den Gebirgszug herum entlang der Werra nach Eisenach zu fahren wäre ein Umweg von zwei Tagen gewesen. Wir entschieden uns für den Waldweg von Unkeroda zur "Krummen Kahre" am Rennsteig. Von dort sollte es zur Sängerwiese und dann abwärts zur Drachenschlucht gehen.
Wir hatten uns mit dem Relief ausgiebig auseinandergesetzt, gute analoge Karten, OpenTopoMap, Komoot und Outdooractive als online-Unterstützung. Trotzdem hatten wir letztendlich kein Gefühl, wie das Relief der Landschaft auf dem Weg dahin tatsächlich sein würde. Aus dem Werratal ging es zunächst auf einer einsamen Landstraße entlang einer Eisenbahnstrecke nach Oberroh. Dort oben erkannten wir, was uns die Karten sagen wollten. Vor uns lag ein Art Hochebene mit sich endlos hinziehenden, langgesteckten Hügeln. Das konnte anstrengend werden, aber wir genossen zunächst die unglaubliche Weite, den Blick über ein endloses, dörfliches Agrarland mitten in der Mitte Deutschlands. Und dennoch gibt es hier kulturelle Bezüge. Im ansonsten völlig unscheinbaren Möhra stießen wir zufällig auf den Stammsitz der Familie Luther. Seine Eltern kamen von hier und er predigte auf dem kleinen Platz im Ort, auf dem heute sein Denkmal steht. Lustigerweise führte der Weg von dort direkt in ein buddhistisches Zentrum, das sich einen einsamen Hügel in der Nähe für die Nachwuchsausbildung ausgesucht hat. Nach einigem weiteren Auf und Ab wurde es dann ernst. Wir mussten hinauf nach Wackenhof. Wacken - für Metallfans ein klangvoller Name aus Norddeutschland, für manche auch der Vorort zu Hölle- hat hier eine für Radfahrer angemessene und ähnlich klingende Entsprechung gefunden, denn der Anstieg war eine Qual, zumal bei der Hitze. Wie sich später herausstellte hat es der "Wackenhofpass" - nicht viel weniger hoch als der Rennsteig - immerhin ins Pässelexikon der Rennrad-Kollegen von quaeldich.de geschafft. Vielleicht wegen der Hitze, vielleicht, weil es das Erste mal seit Jahren wieder richtig hoch ging war ich richtig erledigt. Aber der Ausblick war nicht zu überbieten!
Danach ging es eine Weile auf der Höhe weiter und dann wieder schön bergab bis Unkeroda. Wir überlegten, ob wir vielleicht doch eher die B 19 oder die B 84 nach Eisenach nehmen sollten anstatt des steilen Waldweges der von hier aus in zahlreichen Kehren den Berg hoch zum Rennsteig führen sollte. Zumal dieser nur mit grobem Schotter bedeckt war, der in der Regel bergauf wenig Gripp für die Reifen bietet. Aber letztlich entschieden wir, es zumindest zu versuchen (und bei der Gelegenheit den Wald mindestens für einen Toilettengang zu nutzen). Und wenn man erst einmal halb oben ist, fährt man natürlich nicht wieder zurück... Nach einer gefühlten Unendlichkeit im dichten, komplett einsamen Wald erreichten wir völlig erledigt an der "Krummen Kahre" den Rennsteig und stürzten uns auf die dort bereit stehende Pausenbank. Als wäre hier eine andere Welt kamen plötzlich ständig Wanderer und Radfahrer vorbei. Eine Wandererautobahn sozusagen, während ein paar Meter links und rechts der Wolf tanzt... Nun ging es auf dem Höhenweg weiter zur Sängerwiese, einem Gasthof am Berg, den ich bereits von anderen Reisen kannte, und in dem wir uns ein Radler gönnten um die Energiedepots wieder aufzuladen. Dumm nur, dass der Weg nach unten zur Drachenschlucht über die Jahrhunderte so zerfurcht und erodiert war. Wir hatten Mühe, die schweren Räder auf Kurs zu halten. Kein Alkohol wäre da doch die bessere Lösung gewesen... aber wir kamen letzten Endes heil unten an. Die Drachenschlucht, die wir eigentlich noch ansehen wollten, hätte noch einmal einen längeren Fußmarsch erfordert, und so brachen wir den Besichtigungsversuch vorzeitig ab. Lieber Duschen und noch schön am Markt in Eisenach etwas essen.
Unser Hotel direkt am Markt quartierte uns gestern in einem sehr großen Zimmer ein. Modern zwar, aber etwas ungewöhlich und einsam in einem Nebentrakt gelegen. War wohl ein ehemaliges Büro, aber das störte nicht, im Gegenteil. Endlich Platz, mal alles auszubreiten, gerade auch deshalb weil wir ja zwei Tage bleiben wollten. Der Plan war, einen Fahrrad-Pausentag einzulegen und statt dessen zur Wartburg hoch zu wandern. Guter Dinge begannen wir den Tag, obwohl der Vormittag verregnet war. Denn schließlich war ab dem Mittag besseres Wetter angesagt. Nach unserer Runde durch die Innenstadt, stellten wir allerdings fest, dass es sich wohl doch noch ein bißchen hinziehen könnte mit der Wetterbesserung. Es hatte stark geregnet und die Luft war feucht und kalt. Also gingen wir zurück zum Hotel und besorgten uns wärmere Sachen plus Regenzeug. Wir nahmen den selbst für geübte Wanderer sehr steilen Lutherweg, der mit zahlreichen Info-Tafeln über Luther versehen war (vielleicht, damit man ohne das Gesicht zu verlieren alle 100 Meter verschnaufen konnte). Der Lutherweg, ein sich scheinbar immer parallel zu unserer Route durch Deutschland ziehender Pilgerweg entlang der Wirkungsstätten Luthers, sollte ohnehin eine Konstante auf unserer Reise sein, wie wir später noch feststellten. Oben angekommen waren wir dann selbst mit der verbesserten Ausrüstung den Wetterbedingungen auf der Wartburg nicht gewachsen. Oben auf dem frei stehenden Hügel pfiff eisiger Wind um alle Ecken und wir suchten Schutz in allen offenen Türen der Burg. Trotz Allem waren wir fasziniert von der ausgedehnten Anlage und deren Geschichte. Und der Ausblick in den Thüringer Wald war auch mit grummelig-grauen Regenwolken sehr eindrucksvoll. Da der sonst übliche Touristenstrom aus aller Welt versiegt war, konnten wir die Anlage auch in ungewöhnlicher Ruhe genießen. Wie eigentlich die ganze Stadt, die nach Auskunft unseres Hoteliers nicht unerheblich unter dem Ausbleiben der ausländischen Gäste zu leiden hatte. Die deutschen Inlandsreisenden waren zwar im Kommen, aber längst nicht genug...
Das Wetter hatte sich nicht großartig gebessert. Und das, obwohl wir heute einige landschaftlich schöne Abschnitte erwarteten und wieder eine ordentliche Höhenetappe vor uns hatten. Der Hainich stand auf dem Zettel, ein strukturreicher Buchenwald auf einem Höhenrücken am Thüringer Becken. Immerhin die größte nutzungsfreie Waldfläche Deutschlands und im südlichen Teil sogar Nationalpark und UNESCO-Weltkulturerbe. Aber vorher mussten wir erst einmal wieder herunter zur Werra. Im Örtchen Hörschel, in dem auch der Rennsteig seinen Anfang hat, stießen wir auf den Fluß und folgten ihm ein Weilchen bis nach Creuzburg, dessen Burg im breiten Tal weithin zu sehen war. An der historischen Werrabrücke bei Creuzburg verengte sich das Tal deutlich und bekam durch die felsigen Hänge einen anderen Charakter. Insgesamt war es ein sehr schöner Flecken rund um Creuzburg. Teil des Ensemble der Brücke aus dem 13. Jahrhundert war die Liboriuskappelle, eine kleine, schlichte Kapelle, nur wenig jünger als die Brücke. Ihr Innenraum war mit gut restaurierten Wandmalereien verziert und strahlte eine herrliche Ruhe aus. Wieder draußen auf der Brücke beobachteten wir mit einer kleinen Familie Großeltern, die mit Enkeln im Paddelboot gerade ein gewagtes Anlegemanöver in der Strömung an den Brückenpfeilern hinlegten. Nachdem wir das Panorama aus Brücke, Kapelle, Flusstal, Burg und Altstadt wir eine Weile haben auf uns wirken lassen, nahmen wir die Fahrt wieder auf und folgten der Werra auf der Trasse der ehemaligen Werratalbahn nach Norden.
Nach einer langen Umwegschleife erst am linken, dann am rechten Ufer des Flusses zurück, verließen wir wieder die Werra. Auf gut befahrbarem Kiesweg ging es in einem ruhigen, weltentrücktem kleinen Tal entlang des Lempertsbachs hinauf nach Heyerode am Hainich. Die letzten zwei Kilometer mussten wir auf die Straße wechseln, die zwar nicht all zu stark befahren war, sich aber recht schmal und unübersichtlich über die Höhen schlängelte. Wir entschieden uns daher, unsere charmant grellgelben Sicherheitswesten überzustreifen und die Helme aufzusetzen, um den Aha-Effekt für die Autofahrer -insbesondere in den Kurven- zu erhöhen.
In Heyerode ging es weiterhin steil bergauf und die örtlichen Autofahrer nahmen leider im Drang, mit Vollgas nach oben zu kommen, keinerlei Rücksicht auf uns. Oben auf der Passhöhe waren wir deshalb nicht nur körperlich erledigt sondern auch hochgradig genervt und wollten nur noch auf die alte Bahntrasse, auf der sich der Werra-Unstrut-Radweg befinden sollte, den wir die nächsten Tage nehmen wollten. So nahmen wir uns leider nicht die Zeit, das ungewöhnliche alte Grenzhaus am Pass zu besuchen, das Quer über die Straße gebaut war. Und leider sausten wir auch an der liebevoll hergerichteten Pausengelegenheit am Alten Bahnhof, mit Biergarten, Kinderspiel und Pension vorbei... ein andermal gerne! Selbst für die Abfahrt auf der ruhigen, aber nur gekiesten, ehemaligen Bahntrasse durch den Wald konnten wir uns nicht mehr erwärmen. Wir hatten viel Zeit und Nerven verloren und wollten zügig weiter.´Die Trasse ging jedoch in weitem Bogen wieder nach Süden zurück und so nahmen wir also wieder die Hauptstraße. Diese war allerdings auch ein Erlebnis, denn sie bot wenig später einen beeindruckenden Blick über das im Gegensatz zum dunkelgrünen Wald strohgelbe Thüringer Becken. Die Straße führte teils schnurgerade und steil den Hainich wieder herunter, eine tolle Abfahrt mit 50 Sachen. Die Autos, weiterhin im Rennmodus, waren inzwischen nicht mehr so zahlreich, so dass wir sie gut ignorieren konnten. Als wir den Wald verließen, auf halber Höhe am Hang, bogen wir nach Norden ab uns fuhren durch wellige Landschaft über niedliche kleine Landstraßen ohne großen Verkehr nach Mühlhausen. Eine Stadt mit großer Vergangenheit, die aber so gut wie unbekannt ist. Ende des 15. Jahrhunderts hatte Mühlhausen immerhin um die 10.000 Einwohner und war eine der größten Städte Deutschlands. Als ehemalige Reichsstadt kann sie einige Historische Bauwerke und eine große Mittelalterliche Altstadt vorweisen. Unser Zimmer Lag direkt vor der imposanten gotischen Marienkirche, die mit den vorgelagerten Grünflächen ein wenig französisches Flair versprühte.
Von Mühlhausen aus sollte es den Werra-Unstrut-Radweg quer durchs Thüringer Becken an den südlichen Harzrand nach Sondershausen gehen. Da dieser als Bahnradweg deklariert war, ließen wir es morgens etwas ruhiger angehen uns nahmen uns noch einmal Zeit für eine längere, lohnende Stadtbesichtigung. Meine Begleiterin nutze die Gelegenheit, ihre ungeliebte alte, weiße Windweste durch eine apartere neue Weste zu ersetzen. Dann ging es durch die großen, sanftwelligen Weizenfelder der Region. Teilweise ergaben sich hier sehr ungewöhnliche Landschaftseindrücke, wenig Bäume und üppiges Goldorange um einen herum. Auch Siedlungen waren trotz der weiten Blicke wenig zu sehen. Da wir Abgeschiedenheit vornehmlich aus großen Wäldern, norddeutscher Marschlandschaft oder aus den Bergen kannten, freuten wir uns über diese ungewöhnliche Anreicherung unseres Erfahrungsschatzes. Und wir kamen gut voran, denn der Weg war in weiten Teilen vorbildlich ausgebaut und ausgeschildert und wurde so gut wie nicht genutzt. Nur eine einsame alte Dame radelte auf dem Weg nach Hause an uns vorbei. Ansonsten waren wir ganz für uns. Das erlebt man auch in Deutschland nicht so oft. Auch Schatten war Mangelware und so waren wir froh, uns an einer spitzen Kehre an einem entlegenen und sehr ruhigen Rastplatz eine Weile vor der Sonne in Sicherheit bringen zu können. Wenige Kilometer vor Sondershausen ging es dann noch einmal ein Stück nach Oben, um dann in ein bewaldetes Tal einzutauchen. In Schussfahrt ging es auf dem Bahnradweg bis ins Zentrum, begleitet jetzt wieder von Bergen, die im Sonnenlicht golden glänzten. Sondershausen, in den einschlägigen Portalen nicht als besonders sehenswert hervorgehoben, glänzte auf seine Art, denn in der Abendsonne lag sein Schlossplatz direkt vor unserem Hotel. Eine ungewöhnliche Platzanlage am Hang mit Freitreppen und darüber thronendem Schloss. Sieht man so nicht so oft... Und mittendrin die Tische eines netten italienischen Restaurants. Dort ließen wir den Abend dann noch gemütlich ausklingen.
Heute wollten wir eigentlich weiter nach Sangershausen am Ostharz. Aber wir hatten nicht bedacht, dass am Wochenende unter Corona-Bedingungen die touristisch interessanteren Regionen innerhalb Deutschland bei Kurzurlaubern sehr begehrt sein könnten. Es war einfach nichts im Voraus zu bekommen und so mussten wir uns ein anderes Ziel suchen. Aber selbst das war im Ostharz schwierig, Das war einer dieser Momente, wo es nicht so läuft, die Anspannung steigt und man unbequeme Entscheidungen treffen muss. In unserem Fall hieß es, kurzfristig umplanen und den Ostharz aus der Route zu streichen (obwohl ich dort noch nie war und gern dorthin gefahren wäre). Plan B lautete, stattdessen weiter die Unstruth entlang zu fahren Richtung Saale. Hinter Nebra kannten wir die Ecke zwar schon, aber der Abschnitt bis dahin war uns noch neu. Und der Gedanke, noch ein Weinanbaugebiet anzuhängen stimmte uns auch versöhnlich. Schließlich haben solche Regionen auch einen ganz besonderen Reiz. Allerdings war es auch nicht so, dass es an der Unstruth besonders gute Übernachtungsmöglichkeiten gab. So waren wir froh, in einem kleinen Ort namens Ringleben Quartier zu finden.
Nach einem Kurzbesuch auf dem Schlossberg von Sondershausen folgten wir dem Unstruthradweg durch die leicht hügelige Landschaft nach Bad Frankenhausen. Und plötzlich war er wieder da, der Hopfen! Am karstigen Südhang des Kyffhäuser fand sich ein kleines Anbaugebiet. Der Blick auf den Kyffhäuser selbst war wenig spektakulär, der mystische Name hatte wohl etwas zuviel versprochen für diesen Höhenrücken, der immerhin als eigenes Gebirge geführt wird aber den benachbarten Höhenrücken der Hainleite nur um ein paar Meter überragt. Bad Frankenhausen lag ziemlich ausgestorben in der Mittagshitze und gab für touristische Zwecke nicht viel her. Aber wir entdeckten immerhin noch den "Schiefen Turm" der Oberkirche, mit fast 5 Grad der Turm mit der stärksten Neigung in Deutschland und schiefer als der Turm in Pisa.
Dann ging es weiter durch das Esperstädter Ried, eine abflusslose Senke und ein wichtiges Vogelschutzgebiet. Die Besonderheit des Geländes war aber, dass sich hier durch Auslaugung lokaler Salzvorkommen eine seltene, salzliebende Pflanzengesellschaft angesiedelt hat, selbst im Wasser des Grabens. Diese Besonderheit fiel selbst uns auf, ohne die Hintergründe zu kennen. Wir freuten uns einfach über die unerwartete norddeutsch anmutende Landschaft im Abendlicht. Die Strecke schlängelte sich eine Weile entlang eines alten Grabens auf kleinen Deichen durch die flache Landschaft und machte richtig Spaß zu fahren. Und weil die Etappe gezwungenermaßen etwas kürzer war, kamen wir pünktlich am vorreservierten Gasthof an. Überrascht mussten wir dort feststellen, dass dennoch "ausnahmsweise" geschlossen war. Der Wirt war auf einer Familienfeier gebunden. Nach einem Anruf auf der hinterlegten Handynummer und einer halben Stunde Wartezeit wurden wir aber freundlich eingelassen und bekamen ein schönes und günstiges Zimmer. Wir durften die Außenanlagen nutzen um uns aus unseren Lebensmittelresten ein Abendessen zu improvisieren, Getränke gab es im Kühlschrank des Gasthofs. Erst dachten wir, wir wären die einzigen in dem alten, großen Haus, das fanden wir zunächst etwas "spooky". Aber es trafen weitere Gäste ein und am Ende des Tages waren alle Tische besetzt, nur eben ohne offene Wirtschaft. Wie uns der Wirt später erläuterte lief der Gasthof tatsächlich gut, obwohl er ausstattungsmäßig nicht auf dem neuesten Stand war. Wegen des Radweges gab es wohl auch viele Radwanderer dieses Jahr.
Das heutige Etappenziel war Freyburg, das Zentrum des Weinanbaus in der Saale-Unstrut-Region und Sitz der Rotkäppchen-Sektkelterei. Vor Jahren sind wir dort schon einmal mit Freunden vorbeigekommen, allerdings ohne Übernachtung. Diesmal wollten wir uns mehr Zeit nehmen und übernachten. Dafür hatten wir uns extra ein Weinhotel ausgesucht, modern in einem alten Speicher am Rande der Altstadt untergebracht. Leider hatten wir die Entfernung unterschätzt, die Hitze und und auch die am Wegesrand liegenden Highlights. Am Ende kamen wir wieder viel zu spät an und konnten uns nur noch duschen, umziehen und etwas zu essen suchen. Aber der Weg ist ja das Ziel, oder? Und der war wirklich schön, teilweise wenigstens. Anfangs war das Unstruttal noch sehr breit und bot weite Blicke bis hin zum Kyffhäuser. Manchmal kamen am gegenüberliegenden Ufer die Hänge sehr nahe und verbreiteten mit ihren knorrigen Einzelbäumen im gelben Gras und in der flirrenden Hitze eine mediterrane Atmosphäre, wie überhaupt die ganze Gegend. Mitten aus dem Nichts passierten wir die Grenze von Thüringen nach Sachsen-Anhalt. Dort stand gut sichtbar ein Schild "Fahr Rad - Am besten in Thüringen" und "Kommen sie bald wieder". Direkt hinter dem Schild wechselte mit der Landesgrenze die Qualität des Radweges von "sehr gut" nach "bescheiden". Ab hier ging es auf Plattenwegen weiter, die zu allem Überfluss noch "mit Kante" verlegt waren, so dass Sturzgefahr bestand. Wer schon einmal länger in Sachsen-Anhalt auf Radwanderwegen unterwegs war, wird die Häme auf Thüringer Seite verstehen. Man könnte es im besten Fall als Warnung verstehen - "Ende der Ausbaustrecke", aber eigentlich soll es nur sagen "bleibt hier, ihr seht doch, was da los ist". Sachsen-Anhalt ist nach meiner Erfahrung leider mit Abstand das Bundesland mit den schlechtesten Radwegen (das sollte sich im weiteren Verlauf bitter bewahrheiten!). Wir haben uns trotzdem getraut... Später besserte sich der Weg auch wieder. Inmitten des breiten Tales lagen mehrere markante Einzelerhebungen, allen voran die Burg Wendelstein auf ihrem Felssockel direkt am Fluss. Wegen Bauarbeiten war zwar unser Radweg versperrt, aber auch die Landstraße war unterbrochen und so konnten wir wunderbar ohne Autos bis zur ehemaligen Kaiserpfalz Memleben radeln. Von dieser war allerdings nicht mehr viel zu sehen, und das Umfeld war eher traurig. Aber gleich danach verengte sich das Tal und es ging an bewaldeten Hängen des Mittelberges entlang, dem Fundort der bekannten Himmelsscheibe von Nebra. Für einen Besuch im dortigen Museum, der "Arche Nebra", blieb uns leider keine Zeit, der Weg war noch weit. In Karsdorf an der Kanuausleihe und Biwakstation mussten wir dann allerdings doch einen Stopp einlegen. Denn genau hier beendeten wir vor ein paar Jahren unsere Tour, die uns von der Saale die Unstrut aufwärts führte. Und auch heute bei der Hitze brauchten wir eine Pause und ein erfrischendes alkoholfreies Bier. Wir setzten uns in den Schatten und beobachteten eine Weile das wuselige Treiben auf dem Gelände, das voller Tagesausflügler und Jugendgruppen war, die hier anlandeten. Denn die ruhig dahinfließende Unstrut ist in diesem Abschnitt ein beliebtes Kanurevier, das hatten wir schon beobachtet. Nach der Pause taten wir uns dann - wie so oft - schwer, wieder in die Gänge zu kommen. Warum dann zu allem Überfluss der Radweg nach Karsdorf über den Berg führen musste, am riesigen und die ganze Landschaft dominierenden Zementwerk vorbei, konnten wir uns nicht erklären, wir wären gerne im Tal geblieben. Aber schon bald, kurz vor Laucha, waren wir wieder unten am Fluss und ab hier wurde es sehr schön. Erste Weinberge kamen in Sicht, allerdings waren viele von ihnen nicht mehr bestellt, ein Phänomen, das ich schon von meiner Moselradreise kannte. Offensichtlich lohnt es nicht mehr...
Wir verließen Freyburg bei schönstem Sonnenschein in Richtung Saale, immer begleitet von Weinhängen. Naumburg ließen wir rechts liegen, auch wenn die Stadt sehr sehenswert ist. Aber erstens kannten wir sie schon von anderen Radreisen und zweitens lag sie schlicht am falschen Ufer. Und die kleine Fahrradfähre, die wir das letzte Mal nutzten, schien coronabedingt nicht zu fahren, denn auf beiden Seiten der Unstruth sammelten sich Gruppen von Fahrradfahrern, die hilflos auf die an unserer Flussseite vertäute Fahre starrten. Kein Fährmann weit und breit. Glücklicherweise führte uns unser Weg nicht auf dem anderen Ufer am Saaleradweg entlang, sondern am Nordufer, auf schönen idyllischen und abgelegenen Wegen, die teilweise allerdings auch schlecht befahrbar waren. In einem Vorort von Weißenfels mussten wir den Radweg am Fluss -inzwischen die Saale- wegen einer Streckensperrung verlassen, eine dieser Situationen, wo man überlegt " na, kommen wir da nicht vielleicht doch irgendwie durch?", insbesondere weil hier - wie so oft- der Grund für die Umleitung nicht angegeben war. Neben einer Baustelle hätten wir uns ja noch durchgeschummelt, aber wenn eine Brücke gesperrt gewesen wäre, hätten wir wieder zurück gemusst. Also haben wir uns auf die Umleitung eingelassen und schnell geärgert, da die Umleitung -auch wie so oft- komplett an den Bedürfnissen von Radfahrern vorbei trassiert war. Wir mussten uns steil den Hang auf Kopfsteinpflaster zu einer Hauptstraße hochquälen um von dort -wieder bergab- in die Innenstadt zu kommen. Weißenfels kannte ich schon von meiner Radreise von Berlin nach Straßburg, und ich hatte sie noch gut in Erinnerung. Eine relativ große Stadt mit viel historischer Substanz, über der ein ansehnliches Schloss throhnt. Aber im Vergleich zu den anderen Städten in der Region schien man hier stärker unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu leiden, zu erkennen an den vielen Leerständen und ruinösen Gebäuden in der Innenstadt und auch am Publikum selber. Trotz einiger Fortschritte im Stadtbild rund um den Marktplatz hatte sich leider an diesem Eindruck seit dem letzten Besuch nichts grundlegendes geändert. Nachdem wir uns in einer Drogerie eine neue SD-Speicherkarte für meine Kamera besorgt hatten, sahen wir daher zu, dass wir weiter kamen.
Das war auch deshalb ratsam, da entgegen des Wetterberichts in der Ferne Gewitter aufzogen. Als wir aus dem Saaletal bei Dehlitz herausfuhren stabilisierte sich das Wetter aber schon wieder. Das war auch gut so, denn nun ging es durch baumlose Weizenfelder und plattes Land Richtung Leipzig. Nichts wo man bei Gewitter gerne gefahren wäre. Nach einer Weile auf einem straßenbegleitenden Radweg neben der Landstraße entwickelte sich der Weg, den wir herausgesucht hatten und der nicht einmal eine Namen hatte, als gut ausgebauter und ausgeschilderter lokaler Fernradweg auf alter Bahntrasse, dem wir bedenkenlos bis Leipzig-Grünau folgen konnten. Dort allerdings, in einem der größten Plattenbaugebiete der Republik, ließ man uns dann im Stich und wir irrten ein wenig umher. Keine zwei Kilometer weiter aber zeigte sich Leipzig von einer ganz anderen Seite, im gründerzeitlich bebauten Lindenau reihte sich Cafe an Bar an Restaurant, die Menschen saßen auf den Straßen und es kam großstädtische Urlaubsatmosphäre auf. Hier hätten wir uns gerne dazu gesetzt, aber da die Etappe heute etwas länger war und auch die Zeit schon fortgeschritten, fuhren wir weiter ins Zentrum zu unserem Hotel am Nikolauskirchhof. Nachdem wir unsere Räder in einem umfunktionierten Ladenlokal des Hotels sicher untergebracht hatten machten wir noch einen abendlichen Stadtbummel und genossen den Tagesausklang in einem netten Lokal am Markt, gleich beim Barfußgäßchen, in dem ein Restaurant am anderen liegt.
Am nächsten Morgen frühstückten wir in einem nahe gelegenen Cafe um die Ecke vom Hotel, weil wir sonst wieder "Schichtbetrieb" gehabt hätten. Während wir danach in schönstem Sonnenschein vor dem Hotel die Räder aufsattelten führten wir noch einen netten Plausch mit dem Rezeptionisten über Leipzig. Von der Stadt waren wir auch gestern schon sehr angetan und wir ließen uns ein wenig erläutern, wie sich die Stadt in den letzten Jahren verändert hat und welche positiven Zukunftsaussichten ihr prognostiziert werden. Unser Gespächspartner stellte auch den hohen Freizeitwert besonders heraus, der sich aus den zahlreichen renaturierten Tagebauen im Umland der Stadt ergibt. Gestern fuhren wir bereits am Kulkwitzer See entlang, aber heute auf unserer Reise nach Norden sollten wir ein Vielfaches davon zu sehen bekommen. Aber zunächst führte uns der Weg am modernen Leipziger Zoo vorbei in die großflächig sanierten nördlichen Gründerzeitgebiete der Stadt, die uns sehr an Berlin erinnerten. Dort wo die Einflugschneise des Leipziger Flughafens entlang der Autobahn über die Felder führt, verließen wir die Stadt.
Kurz danach ging es dann auch schon los mit den Tagebauseen. Der Weg führte immer oberhalb des steilen Ufers entlang und bot weite Blicke über das Wasser. Offensichtlich hatte man sich hier bemüht, zwischen Naturschutz und Erholungsbedürfnis der Menschen einen ausgewogenen Kompromiss zu finden, denn für beides gab es seinen Platz. Insgesamt mutete die Landschaft sehr norddeutsch, wenn nicht fast schon skandinavisch an. Nadelwälder, Birken, Seen, Vogelreservate, Grasland und alles sehr, sehr ruhig. Trotzdem waren auch die Wege gut ausgebaut. Wir waren sehr angetan und freuten uns über die Vielfältigkeit der Landschaft auf unserer kleinen Deutschlandreise. Auf der Hälfte der Etappe erreichten wir Delitzsch mit seiner kleinen Altstadt und dem markanten Barockschloss. Am Wallgraben fanden wir unter einem Baum eine Bank für eine ausgiebige Pause mit Blick auf die Stadtmauer und die vorbei flanierenden Mütter mit ihren Sprösslingen. Danach ging es noch einmal 10 Km nur durch Wälder an Seen entlang nach Bitterfeld. Den Namen verbanden wir bislang immer nur mit der chemischen Industrie. Aber wir stießen von Südosten aus dem dichten Wald an den Großen Goitzschesee, den Haussee der Stadt, so dass unser Eindruck von einer einladenden Uferpromenade inklusive Strandbar geprägt war.
In der dann doch stark durch sozialistischen und post -sozialistischen Städtebau geprägten Innenstadt verließen wir das touristische Radwegesystem und schlugen uns auf eigene Faust durch die Industrieregion. Unsere App hatte uns eine Route zusammengestellt, die uns auf kürzestem Weg quer durch riesige, zum Teil auch noch brachliegende, Industrieareale nach Wolfen brachte. Nicht unbedingt ein touristisches Highlight, aber auch heute war es nicht so einfach mit der Unterkunft. Die Monteure hatten schon alle verfügbaren Betten in der Region belegt und wir waren froh im "Deutschen Haus" in Wolfen noch etwas gefunden zu haben. Eigentlich sind diese Deutschen Häuser, die es -ohne eine Kette zu sein- nun wirklich überall in der Bundesrepublik gibt, meist nicht unsere erste Wahl, weil sie oft eher einfacher Natur sind. Hier aber war die Empfehlung eines anderen Gasthofes, der schon belegt war, goldrichtig. Wir wurden freundlich empfangen und konnten noch schön den Abend in dem sehr netten Außenbereich des Restaurants ausklingen lassen.
Wo bitte gehts nach Wittenberg? Das war die Frage, die wir uns heute öfter mal stellen mussten. Es begann gleich am Anfang der Fahrt, als wir uns zur Mulde durchschlagen mussten, ein regional bedeutsamer Fluss, dem ich vor Jahren schon einmal tief nach Sachsen hinein gefolgt war. In Jeßnitz, einem seltsam unwirtlichen, urbanen Straßendorf erreichten wir das Muldetal und fuhren ein Stück flussaufwärts. In Muldenstein versorgten wir uns sicherheitshalber mit Proviant, denn wir konnten nicht absehen, ob wir heute überhaupt noch einmal an Läden vorbei kommen würden (nein - kamen wir die nächsten 40 Km nicht!). Es ging zwar durch ein lange Zeit industriell genutztes Bergbaurevier, aber von dieser Nutzung waren nur noch Spuren, Fragmente, Ruinen und Hinweistafeln übrig geblieben. Wir passierten deshalb auf der gesamten Strecke nur zwei Orte, der Rest war Wald und Heide. In Zschornewitz war die Veränderung besonders deutlich spürbar, denn dort lag früher einmal das Kraftwerk Zschornewitz, das erste Großkraftwerk Deutschlands und zu seiner Zeit auch das größte Braunkohlekraftwerk der Welt, das Berlin und Teile Sachsens mit Strom versorgte. Drum herum befanden sich Anfang des letzten Jahrhunderts noch mehrere andere Industrieanlagen. Von alledem ist so gut wie nichts mehr zu sehen. Lediglich die denkmalgeschützte und hervorragend sanierte und ohne zugehöriges Werk etwas deplaziert wirkende Werkssiedlung "Kolonie" zeugt noch von der industriellen Vergangenheit.
Hinter Zschornewitz erlebte ich einen für mich ganz besonderen Moment. Denn vor mehreren Jahren war ich mit einem Freund auf dem Weg von Berlin nach Straßburg hier fast am Sachsen-anhaltinischen Radwegesystem gescheitert. Seinerzeit kamen wir von Norden und folgten - wie auch wir jetzt - dem "Kohle-Dampf-Licht-Seen-Radweg". Nach Gräfenhainichen ließ uns jedoch die Ausschilderung im Stich und die Wegebeschaffenheit wurde immer schlechter und Gräser überwucherten den Weg. An einer Bahnstrecke hatten wir nur noch einen unwegsamen Trampelpfad vor uns, der holperig einfach ohne offiziellen Übergang quer über die Gleise führte. Kein Schild weit und breit. Obwohl wir bis dahin anhand unserer Karten dachten, auf dem richtigen Weg zu sein, verließ uns an dieser Stelle der Mut und wir drehten um. Die schwer bepackten Rädern wollten wir dann doch nicht über die Gleise hieven. Das brachte uns neben dem Umweg eine lange Fahrt auf einer Haupverkehrsstraße ein. Tja, und nun stellte ich fest, dass ich mich der besagten Stelle diesmal von Süden näherte. Und wieder auf einem besseren Trampelpfad durch dichten Wald. Es dämmerte mir, als wir an dem Gasrohr entlang fuhren, dass mich das Schicksal erneut an diesen speziellen Ort führen würde. Und siehe da, wieder war Schluss am Bahndamm, den wir rechtwinklig hätten queren müssen, wieder kein Schild. Aber diesmal ließen wir uns nicht ins Boxhorn jagen (außerdem fuhr vor uns eine Familie, die unbeirrt im rechten Winkel durchs Gras abbog). Nach 500 Metern erreichten wir so tatsächlich so etwas ähnliches wie einen Bahnübergang. Auf der anderen Seite fuhren wir die 500 Meter wieder zurück und stießen wieder auf den Radweg, genau dort, wo ich seinerzeit umgedreht bin. Und es sah alles noch genau so aus. Kein ordentlicher Weg, kein Schild. Für einen touristischen Radweg nach so vielen Jahren, den es ihn schon gibt, eine schwache Leistung. Aber wir waren ja wieder in Sachsen-Anhalt.
Danach war es nicht mehr weit bis nach Ferropolis, der museal gestalteten Landzunge im Baggersee von Gräfenhainichen. Die von den fünf Großgeräten umgebene Ferropolis-Arena mit ihrem Industrial-Touch wird in normalen Jahren für Festivals und Musikaufführungen genutzt, z.B. das "Melt!", das "splash!" und das "With Full Force". Im weiteren Verlauf des Radwegs (hier auch der R1) gab es ein bißchen Kunst zu sehen, rostige und manchmal ganz originelle Metallskulpturen verschiedener Künstler. Der See hingegen verbarg sich hinter einem hohen Zaun und dichtem Wald. Das war vor ein paar Jahren auch noch besser, ich konnte mich noch an diverse Ausblicke erinnern, die es nun nicht mehr gab. Bei dem futuristischen Aussichtshäuschen am Westufer des Gremminer Sees wurde die Strecke eine Weile grobkiesig und nicht mehr schön befahrbar, bis auf die schnurgerade ICE-Trasse einschwenkte und gut asphaltiert 5 Km durch den Wald nach Bergwitz führte. Dort gab es eine sehr schöne Badestelle mit breitem, feinem Sandstrand. Wir fanden eine schattige Bank mit weitem Blick auf den See und gönnten uns eine längere Pause.
Hinter dem See verließen wir die Wälder und fuhren durch weite Felder und Wiesen Wittenberg entgegen. Kurz vor den Elbauen hielten wir noch einmal an, weil Störche in großen Mengen und ohne Scheu vor den zuschauenden Radreisenden um einen Mähdrescher kreisten und im abgeernteten Feld nach Beute suchten. Dann ging es fix weiter. Kurz vor Wittenberg fragte uns eine nicht mehr ganz so junge, aber noch sehr dynamische Französin nach einem Campingplatz, denn der in Wittenberg hätte zu. Tja, wir konnten ihr zwar bestätigen, dass es am Bergwitzsee einen offenen Platz gab, aber leider waren es noch gute 15 Km dorthin, was am fortgeschrittenen Abend keine echte Freude hervorruft. Wir hingegen hatten nur noch 4 Km, zum Glück. Da Wittenberg ein beliebtes Etappenziel auf dem Elberadweg ist waren wir allerdings nicht die einzigen, die zu dieser in die Stadt einfuhren. Ein ungewohntes Gefühl für uns, nach so viel Wildnis wieder an so einer Hauptroute zu sein...
Wittenberg war wieder sehr schön, die Stadt übt wegen ihres geschlossenen Stadtbildes und ihrer Geschichte eine besondere Faszination auf mich aus. Wer noch nie hier war sollte sich vielleicht einen Pausentag nehmen, um die Wirkungsstätten von Martin Luther, Philipp Melanchthon und Lukas Cranach zu besichtigen. Fährt man nach Norden aus ihr heraus, dann geht es erst einmal durch den Fläming, einen 30 bis 50 Kilometer breiten Höhenrücken im südwestlichen Brandenburg. Diese dünn besiedelte Agrarlandschaft sticht nicht unbedingt durch besondere Highlights hervor, ist aber mit ihrem Wechsel aus Wäldern, Wiesen und Feldern und den beschaulichen Dörfern ein angenehmer Rahmen für eine entspannte Radfahrt. Fast ein bißchen aus der Zeit gefallen wirkt die Gegend bis Jüterbog, der ersten größeren Stadt in Brandenburg. Auch Jüterborg hat ein großes, geschlossenes Stadtbild vorzuweisen, aber hier ist schon die brandenburgische Prägung deutlich erkennbar, insbesondere durch die Ziegelbauten der Kirchen, der Stadttürme und des Rathauses. Da es heiß war gönnten wir uns ein Eis auf einer Bank am Markt und nutzten die Zeit, uns bei unserem Quartier in Luckenwalde, das wir morgens online gebucht hatten, telefonisch zu melden. Etwas verwirrt namen wir die automatische Ansage zur Kenntnis, dass man wegen der Corona-Beschränkungen nur noch für Geschäftskunden offen hätte. Das stand so nicht auf der Buchungsseite. Da wir niemanden persönlich erreichten, was wir auch sonderbar fanden, fuhren wir erst einmal weiter, allerdings schon mit einem etwas unguten Gefühl. Nicht, dass das Hotel womöglich gar nicht offen wäre.
Hinter Jüterbog nutzten wir die Route des Fläming-Skates, einer beliebten Überland-Skaterstrecke. Sie führte nicht immer gradlinig, aber immerhin auf guten, breiten wegen durch Sonnenblumenfelder und Wälder nach Luckenwalde. Das Hotel war schnell gefunden, denn meine Begleitung war dort schon einmal auf einer Hochzeit einquartiert und hatte noch gute Erinnerungen an das Haus. Aber wie es immer so ist, es war doch etwas faul im Staate Dänemark. Denn das Hotel war verriegelt. Wir entdeckten auf der Buchungsbestätigung einen Code für einen Schlüsselkasten am Hintereingang, direkt unter den Balkonen eines Neubaugebietes. Interessanterweise ließ sich der Kasten mit jedem x-beliebigen Code öffnen, so dass der Zugang zum Haus frei zugänglich für jedermann war. Die Rezeption war nicht besetzt, und im ganzen großen Haus war keinerlei Personal anwesend. Eine seltsame Vorgehensweise, da es sich um eine normale Anreisezeit und nicht um Mitternacht handelte. Da es sich um ein altes, knarziges Adelspalais handelte, fanden wir die Atmosphäre zunächst etwas "Spooky". Dass bei unserer Rückkehr vom Essen immer noch Schlüssel frei zugänglich an der Eingangstür hingen, machte die Sache nicht besser, aber es fehlten auch Schlüssel. Scheinbar waren wir nicht mehr alleine im Haus. Unsere Räder schlossen wir sicherheitshalber trotzdem ans Treppengeländer im Foyer an.
Beim Auschecken konnten wir uns wegen der sonderbaren Umstände einen Kommentar nicht verkneifen. Wir formulierten es freundlich und konstruktiv. Gerade deshalb waren wir mit der Erklärung nicht zufrieden. Warum man die Mailbox-Ansage seit zwei Monaten nicht anpassen konnte war ebenso unklar wie der Grund, warum der kaputte Schlüsselkasten nicht schon längst repariert wurde, obwohl dem Hotel das bekannt war. Und warum unser Zimmer so klein war, obwohl wir extra ein großes gebucht hatten, um Platz für unsere Taschen zu haben, wurde auch nicht erklärt. Wir hätten doch die angegebene Notfallnummer wählen sollen um ein anderes Zimmer zu verlangen, hieß es. Wir hätten lieber eine Ansprechperson beim Check in gehabt anstatt den Angestellten Abends noch in ihr Privatleben hinterher zu telefonieren, gaben wir zu Protokoll und verließen die Lokalität, die ansonsten wirklich schön war. Schade!
Wir fuhren von Luckenwalde auf kleinen Landstraßen immer nach Norden. Dort, in Berlin, wartete heute das Ende unserer Tour auf uns. Bis Trebbin zeigte sich Brandenburg von seiner schönsten Seite, ländlich, einsam, unaufgeregt. In Trebbin erwartete uns dafür das komplette Gegenteil. Ein LKW am anderen donnerte durch die enge Hauptstraße des kleinen Landstädtchens, das im wesentlichen auch nur aus dieser Straße bestand und so gut wie keine Aufenthaltsqualität hatte. Also fuhren wir weiter entlang des Scheunenviertels, in dem sich Antiquitätenhändler ausgebreitet hatten einen kleinen Berg hoch zum Logistikzentrum einer bekannten Möbelmarktkette.
Dort verließ uns dann leider unser Glück. Der straßenbegleitende Weg endete apprupt an einem Parkplatz. Ein Stück fuhren wir noch einen Trampelpfad entlang, bis auch dieser sich im Nichts auflöste. Wir waren gezwungen auf die stark befahrene Straße auszuweichen. Nicht, dass wir uns das normalerweise nicht zutrauen würden, aber diese Straße hatte es in sich. Offenbar war die parallel laufende Schnellstraße gesperrt, was der Landstraße einen Schwerlastverkehr bescherte, den wir auf den ganzen 900 km Deutschlandreise noch nicht erlebt hatten. Also zogen wir ein letztes mal die Warnwesten an und setzten die Helme auf. Mit mulmigem Gefühl kurbelten wir fix die fehlenden 1000 m bis zu unserem Abzweig von dieser Höllenroute herunter und hielten dann erst einmal unter alten Eichen inne, Eichenprozessionsspinnerraupen hin oder her. Danach ging es ein paar Kilometer gemächlich weiter, bis wir wieder auf einen Autobahnzubringer stießen. Hier hatten wir zwar einen eigenen Radweg, aber mit der Ruhe war es fürs Erste vorbei. Hier im Umfeld von Ludwigsfelde leben und arbeiten mittlerweile eine ganze Menge Menschen, was sich natürlich auch am Verkehr ablesen lässt. Aber wir mussten diesen Abschnitt in Kauf nehmen, weil wir uns einen brandneuen Radweg herausgesucht hatten, der uns im Anschluss von Ludwigsfelde abseits des Straßenverkehrs nach Sputendorf bringen sollte. Der Radweg war so gut ausgebaut, dass er -wie ich später der Presse entnahm- regelmäßig illegal auch von Autofahrern genutzt wird. Wir hatten keine solche Begegnung. Allerdings war der frei über die Felder führende Abschnitt auch nicht geeignet für einen diskreten Toilettengang, so dass wir die Gelegenheit in Sputendorf wahrnahmen, in einer kuriosen Gaststätte einzukehren, die selbst in diesem entlegenen Ort abseits gelegen war. Immerhin gab es ein gut schmeckendes alkoholfreies Kristall und selbstgemachten Kuchen. Die Strecke danach wartet noch auf ihren fahrradtauglichen Ausbau.Bis es soweit ist, muss der geneigte Radreisende mit Betonplatten vorlieb nehmen, die nicht auf Stoß, sondern mit ordentlich Abstand und bis zu 10 cm hohen Sprüngen verlegt sind. So eine Wegebeschaffenheit verlangt volle Konzentration, so dass uns leider nicht viel Gelegenheit zur Würdigung des Waldes blieb, den wir durchquerten.
Beim Gut Marggraffshof stießen wir auf die L77, eine ganz neue Zubringerstrecke nach Berlin mit einem schönen straßenbegleitenden Radweg. Sie führte uns über die weiten Felder zwischen Stahnsdorf und Teltow nach Kleinmachnow, kurz vor der berliner Stadtgrenze. Dort legten wir am in schönster Abendsonne liegenden Machnower See eine letzte längere Pause ein. Wir ließen die Reise noch einmal Revue passieren, genossen die Aussicht und jeder konnte sich noch einmal ganz seinen eigenen Gedanken hingeben. Wie sich später herausstellte lag unsere Pausenbank genau auf der 1000 Km-Marke, ein schöner Zufall. Noch drei Kilometer, dann waren wir da. Es fühlte sich seltsam an, nach über drei Wochen Radreise quer durch Deutschland, wieder am so vertrauten Berliner Ortsschild zu stehe. Was hatten wir nicht alles gesehen auf dieser Reise, die ausgedehnten Auen der ruppigen Isar, die Hügel der Hallertau, das enge Tal der Donau und das weite der Altmühl. Das endlose blaue Band des Main-Donau-Kanals, das das malerische Werratal, die Höhen des Thüriger Waldes und des Hainich. Wir sahen die endlosen, baumlosen Felder des Thüringer Beckens, die Weinberge an Saale und Unstruth und die skandinavisch anmutenden Tagebaulandschaften Sachsen-Anhalts. Und nun standen wir wieder hier, wie von einem Tagesausflug kommend und doch ganz anders. Ein tolles Gefühl...
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